Definition Bildung
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Bildung — ein Definitionsversuch

Angeregt durch diverse Besprechungen im Landesvorstand des VLW Schleswig - Holstein (Verband der Lehrer an Wirtschaftsschulen), entwickelte ich eine eigene Definition des Begriffes „Bildung". 

Es war und ist meine Absicht, einen Begriff zu erarbeiten, der auf breiter Ebene konsensfähig ist. Auch Verfechter des tradierten Bildungsbegriffes (im „Humboldt'schen" Sinne) sollen sich nicht vor den Kopf gestoßen fühlen, weil ein neuer Konflikt alles andere als hilfreich für unser Anliegen wäre, endlich auch die berufliche Bildung uneingeschränkt als vollwertige Bildung anerkannt zu sehen.

Bildung ist die umfassende Entwicklung menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten
während des ganzen Lebens

Sie vereinigt gleichermaßen die Verfolgung humanistischer und utilitaristischer Ziele. Sie befähigt das Individuum

  •  zum selbstständigen Lernen,
  •  zum Erkennen von Problemen,
  •  zur Entwicklung der Fähigkeit,
     sich sachgerecht mit Konflikten auseinander zu setzen und vernünftige Lösungsstrategien zu erarbeiten.
  •  Durch die Befähigung zur Abstraktion — weg von der eigenen Person, hin zum eigentlichen Problem —
     verhilft sie dem Menschen, einen friedlichen Ausgleich zwischen intra- und interpersonalen Interessen zu erreichen.
  •  Sie erweckt im Menschen dadurch das Bedürfnis, einen höheren Grad der Vervollkommnung erreichen zu wollen.

Erläuterungen:

Diese Definition lehnt sich bewusst nicht an die übliche, vom humanistischen Geist getragene und damit folgerichtig einseitige Vorstellung vom Inhalt des Begriffs Bildung an.

Sie verzichtet ebenso konsequent darauf, lediglich eine Gleichwertigkeit der beruflichen mit der allgemeinen Bildung herausstellen zu wollen. Dieser Versuch wäre schon in seinem Ansatz deswegen irrtumsbehaftet, weil er als Bezugsgrundlage eben jene Inhalte der allgemeinen Bildung zum Maßstab zu nehmen hätte, die zu erreichen die berufliche Bildung sich scheinbar erst bemühen müsste.

Jedes Unterfangen, die Gleichwertigkeit der beruflichen mit der allgemeinen Bildung per definitionem oder per declarationem nachweisen zu wollen, räumt überdies unfreiwillig und von vornherein ein, die „allgemeine" Bildung sei der Maßstab, den es erst zu erreichen gelte. Tatsächlich muss die Entwicklung dessen, was unter „Bildung" im weitesten Sinne verstanden werden muss, genau umgekehrt zwischen der beruflichen und der allgemeinen „Bildung" verlaufen sein: Die menschliche Evolution erforderte zur Existenzsicherung zu allererst die Entwicklung von Fertigkeiten und Fähigkeiten, die das Überleben sicherte. Erst  danach  konnten sich die Menschen der Vorzeit auch anderen Dingen zuwenden. Aus dieser vergangenheitsbezogenen Betrachtung ließe sich folgern, dass ursprünglich eine Art „beruflicher' Bildung einen überlebenswichtigen Vorrang gehabt haben muss, bevor sich eine „allgemeine" Bildung überhaupt entwickeln konnte.

 Menschliche Bildung kann es grundsätzlich nur unter der Voraussetzung geben, dass das Individuum ohne jede Einschränkung in seiner Ganzheit betroffen ist.

 Folgerichtig bedingen alle Formen der Bildung einander und durchdringen sich gegenseitig. Ihre Interdependenzen lassen es fragwürdig und willkürlich erscheinen, bestimmte Teile der Bildung einem bestimmten „Bildungs-Bereich" zuordnen zu wollen. So kann es — auch gemessen am derzeit nach herrschender Meinung geltenden allgemeinen Bildungsbegriff — ohne eine fundierte allgemeine Bildung keine qualifizierte berufliche Bildung geben. Andererseits prägt eine sich fortentwickelnde berufliche Bildung intensiv auch die Weiterentwicklung eben jener „allgemeinen" Bildung. Für jeden Menschen ergeben sich lebenslang natürlich geprägte Entfaltungen des Lernens. Aus dieser Tatsache kann jedoch nicht auf den Vorrang einer bestimmten Form der Bildung — nur weil zeitlich früher vermittelt — vor anderen Bildungsformen geschlossen werden, wohl aber von der Gleichwertigkeit aller Arten von Bildung zu jedem Lernzeitpunkt.  Bildung strebt nach positiver Vollendung, damit verneint sie zugleich in sich negative Bestrebungen des Menschen. Das Erarbeiten von nach gesellschaftlich übereinstimmender Meinung abzulehnenden Fähigkeiten und Fertigkeiten stellt daher kein Ziel im Sinne jeder Art von Bildung dar.

Auf folgenden Gedanken sei noch hingewiesen: Es ist spät, aber hoffentlich noch nicht zu spät, um das Ruder in der Politik herumzureißen - neue Prioritäten sind gefordert!

Die erste Priorität gehört uneingeschränkt der Bildung in ihrem gesamten Spektrum, denn:
Als rohstoffarmes Land verfügt Deutschland im Wesentlichen über Humankapital. Es muss im Interesse aller Menschen liegen, diesen Schatz zu hegen und zu pflegen. So kann z. B. die Rente des alten Menschen nur gesichert werden, wenn genügend junge und hoch qualifizierte Menschen die Renten der kommenden Generationen erwirtschaften können — und das setzt Bildung auf breiter Ebene voraus.

Die zweite Stufe sollte der inneren Sicherheit gehören, denn:
Nur wer sich überall sicher bewegen kann, vermag sich auf seine wesentlichen Aufgaben zu konzentrieren, ohne zusätzliche Energie vergeuden zu müssen.

Die dritte Stufe müsste einem perfekt ausgebauten Infrastrukturnetz gewidmet werden:
Jeder muss jederzeit ohne Behinderung mit jedem anderen an jedem beliebigen Ort (zumindest in Deutschland!) kommunizieren/kontaktieren können.

Alle anderen Prioritäten sind daran gemessen nachrangig. Über deren Rangfolge kann man diskutieren.
Die logische Folge dieser Prioritätensetzung wäre eine andere Verteilung der öffentlichen Mittel, z. B. für Universitäten mit Lehre und Forschung, Schulen aller Arten, Museen, (Musik)-Theater samt allen hier nicht genannten Spektren der Kultur.

Damit könnte Deutschland auf den Gebieten Bildung, Wissenschaft, Forschung und als konsequente Folge auch der Wirtschaft in einiger Zukunft wieder den Rang erreichen, zu dem seine Bevölkerung in der Lage ist."

 

Klaus Westensee — in Wirtschaft und Erziehung — Februar 1998 — wue 2/98